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INTERVIEW

"Sich öffnen oder aussterben"

Südwind Oktober 2016 | Text: Christina Schröder | Foto: © Daniela Klemenic

Wie er das Weite sucht und was er von Traditionen hält,
erzählt der österreichische Liedermacher und Weltmusiker Hubert von Goisern.

Hubert von Goisern

Sie kommen aus dem Salzkammergut und sind von da aus in die ganze Welt gereist, haben in Kanada und auf den Philippinen gelebt, vielerorts musiziert. Was war die Motivation, das Weite zu suchen?

Die Neugier: Am Anfang ging es auch ums Rauskommen – egal wohin – aus dem für mich muffigen Salzkammergut. Dort bin ich ja in einer abgegrenzten, geschlossenen Gesellschaft aufgewachsen. Leute aus Wien waren schon ein Feindbild für viele. Ich kann mich an einen amerikanischen Buben erinnern, der bei uns in der Schule war, als wir etwa zwölf Jahre alt waren. Der hatte mit der Kirche nichts am Hut. Und ich hatte Sorge, dass er nach seinem Tod nicht in den Himmel kommt. Als ich mir das dachte, wurde mir bewusst, wie absurd das war. Da hat es angefangen, das Gefühl raus zu müssen. Auch die Fantasie hat mich angetrieben: Ich suchte ein anderes Lebensgefühl, ein heißeres, vielleicht. Es entstand der Wunsch, nach Afrika zu gehen, eine andere Form von Üppigkeit zu erleben und eine andere Sicht auf das Leben als Ganzes zu bekommen.

Was haben Sie auf Ihren Reisen gefunden?

Mich selbst; in einem viel größeren Maße als ich es zu Hause hätte können. Ich habe meine Ängste vor dem Anderen gefunden und bewältigt. Das ist wie Klettern. Natürlich hat man Angst vor dem Runterfallen. Aber man macht es, weil man sowohl die Schwerkraft als auch diese Angst überwinden will. So ist es auch beim Reisen. Es fordert einen, es fordert die Sinne, man kann nichts mehr als selbstverständlich hinnehmen, weil alles anders ist. Die Leute fahren manchmal nicht nur auf der anderen Straßenseite, sie wackeln mitunter auch mit dem Kopf und meinen dabei "Ja". Allein die Körpersprache zu hinterfragen, macht einen reicher und größer. Ich habe mich entdeckt und glaube nicht, dass diese Entdeckung schon zu Ende ist, denn wahrscheinlich geht das bis zum letzten Atemzug.

In den Regionen, in denen Sie waren, haben Sie auch die Musik gesucht und sich damit beschäftigt. Wie haben Sie dort den Zugang zu traditioneller Volksmusik erlebt?

Im Salzkammergut, wo ich aufgewachsen bin, ist die Volksmusik nach wie vor – und damals noch mehr als heute – eine sehr bestimmende Melodie, eingebettet in einem sehr bestimmenden Milieu. In meiner Pubertät habe ich angefangen, das zu hinterfragen und bin mit meiner Weise, die Dinge zu sehen, angeeckt. Daraufhin habe ich alles abgelehnt, was mit Traditionen zu tun hat. Den Gästen auf Sommerfrische hat das Dirndl- und Lederhosen-Getue und auch die Musik, die da gespielt wurde, gefallen, aber ich habe an meinem eigenen Leib erfahren, wie eingrenzend das war. Durch meine Reisen wurde mir bewusst, dass ich – mehr als alles andere – immer die Wurzeln gesucht habe. Auf den Philippinen hat mich das Spielen der Nasenflöte viel mehr interessiert als die vielen Popbands, die es dort gab. Da habe ich mich selber an der Nase genommen und mich gefragt, warum mich die Wurzeln dort interessieren und ich sie zuhause ablehne. Ich habe mir vorgenommen, mich damit zu beschäftigen. Das war aber nur möglich, indem ich sie dekonstruierte. Eins zu eins hätte ich sie nicht annehmen können. Ich konnte die Werke, die Tradition von den Menschen trennen, die sie wiedergaben. Man sollte nirgendwo einen Romantizismus auspacken und jammern, dass so viele althergebrachte Sachen aussterben. Wenn wir nicht mit der Zeit gehen, bereit sind uns zu öffnen, uns weiterzuentwickeln, sterben wir aus. Wir sollten nicht unsere Entwicklung den Traditionen opfern. Nur weil etwas tradiert ist, heißt das noch lange nicht, dass es gut ist. Konservativ zu sein vermittelt eine gewisse, wenn auch scheinbare Sicherheit. Man hat das Gefühl, dass man sich an etwas anhalten kann, auch, wenn es ein abgestorbener Ast ist, der dann unter der Last bricht.

Sie geben Konzerte in Regionen der Welt, in denen die Menschen Ihre Texte nicht verstehen. Wie reagieren sie auf Ihre Musik?

Es gibt eine nonverbale Kommunikation über die Musik. Sie ist eine umfassendere Sprache, weil sie ohne Worte in Bereiche der Kommunikation vorstößt, die man gar nicht in Worte fassen kann. Das funktioniert, egal, ob ich mit afrikanischen oder tibetischen Künstlerinnen oder Künstlern spiele. Kunst soll in erster Linie die Fantasie freisetzen, es darf nicht festgelegt sein, wie sie aufgefasst werden soll. Sie soll auch nicht politisch korrekt sein müssen. Es kann zwar sein, dass sie es für den einen oder die andere ist, aber das darf kein Muss sein. Deswegen ist sie ja Kunst und nicht das reale Leben. Kunst hat einen viel höheren Anspruch, als man glaubt. Wenn jemand etwas künstlerisch schafft, macht er sich wahnsinnig viele Gedanken. Kunst ist viel Herzblut und Konzentration – immer und überall.

Und wie verorten Sie das Regionale in einer globalisierten Welt?

Die Gegenbewegung zur Globalisierung ist die Regionalisierung und das ist auch nicht nur verkehrt. Warum soll man sich um das, was da ist, weniger kümmern, als das, was woanders ist? Aber es gibt eben auch die Global Players. Wenn sich die für Regionalität stark machen, dann ist das mitunter Betrug. Transport wird viel zu stark gestützt. Es kann nicht sein, dass ein Bier aus Vorarlberg in Wien dasselbe kostet wie eines, das hier gebraut ist. Wir schippern unnötigerweise Sachen durch die Gegend. Ab und zu ist es gut, etwas Exotisches zu probieren. Dann sollte man auch das Doppelte oder das Dreifache dafür zahlen. Wenn Profite nur über den Handel gemacht werden, muss klar sein, dass jemand die Kosten dafür trägt und dabei draufzahlt. Anders geht sich das nicht aus. Es gibt viel zu viele, die nur mehr handeln und viel zu wenige, die produzieren. Und abgesehen vom finanziellen Gewinn ist es viel befriedigender, etwas herzustellen, als etwas zu transportieren und bloß damit zu handeln.

Warum fällt es uns schwer, in größeren Zusammenhängen zu denken, so etwas wie ein Weltbewusstsein zu entwickeln?

Es ist ein Privileg, das sich viele nicht leisten können. Menschen, zum Beispiel in Afrika, die jeden Tag ums Überleben kämpfen, kann man nicht vorwerfen, dass sie nicht in globalen Dimensionen denken. Uns allerdings schon. Angesichts von Migration, Schutzsuchenden, Wirtschafts- und Katastrophenflüchtlingen müssen wir uns mit der globalen Dimension auseinandersetzen, ob wir wollen oder nicht. Die Probleme sind jetzt auf uns zugekommen, weil wir nicht fähig waren, vorauszudenken.

Wo sehen Sie Handlungsbedarf?

Ich bin gegen Entwicklungshilfe. Das ist wie Almosengeben. Man sollte den Menschen, die Rohstoffe produzieren, faire Preise zahlen und nicht Spottpreise, wie derzeit üblich. Anstelle dessen gibt man ihnen Entwicklungshilfegelder, hält sie damit klein und abhängig. Sie bekommen kein Selbstwertgefühl. Es wäre schön, würden diese Missstände erkannt und verändert. Doch die Menschheit lebt nach dem Motto "wann's uns ned weh tuat, dann toa ma nix". Wir könnten etwas verändern, indem wir größeren Wert auf Bildung und Aufklärung legen. Indem wir die Zusammenhänge der Dinge darstellen und uns nicht in die Tasche lügen. Auch nicht mit wohlgemeinten Konzepten, die an der Wirklichkeit vorbeigehen.

Wie sehen Sie die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in Österreich?

Ich finde es schmerzhaft, dass sich das Leben so politisiert hat. Ja, es ist notwendig, sich einzumischen. Aber es wäre schön, wenn man wieder zur Tagesordnung übergehen könnte. Viele Tabus wurden gebrochen. Es hat eine Radikalisierung der Gedanken, der Sprache und des Handelns stattgefunden. Dafür mache ich in erster Linie Politikerinnen und Politiker verantwortlich. Wir sind aus unserer Wohlfühlwelt herausgerissen worden. Nicht nur in Österreich. Es gibt eine sehr unterbelichtete Solidarität. Und es ist mehr als bedauerlich, dass sich so eine große Kluft zwischen Land und Stadt auftut. Mit den Wahlen hierzulande hat sich herausgestellt, dass – wie in Russland, der Türkei oder England auch – ein Großteil der Bevölkerung glaubt, auf der Strecke geblieben zu sein. Das heißt aber noch lange nicht, dass es den Menschen schlecht geht. Real gibt es in den Städten viel mehr Armut als am Land. Aber am Land glauben sie, dass alles den Bach runter geht und sie die Zeit zurückdrehen müssen.

Was kann jeder Einzelne tun, um die Welt zu verbessern?

Zu allererst einmal frohen Mutes zu sein. Das sind zwei ganz wichtige Worte … froh und Mut. Und man sollte die Dinge immer wieder hinterfragen. Vieles ist tradiert und wir machen es nur, weil es immer so war, auch wenn es heute keine Bedeutung mehr hat und vielleicht sogar kontraproduktiv ist. Man soll sich dem Wandel stellen. Er findet statt – schon seit jeher! Wenn man den Ist-Zustand annehmen kann, dann kann man auch etwas verändern. Und man soll sich von positiven Dingen froh stimmen lassen.