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INTERVIEW

Späte Liebe zum Buch

Salzburger Nachrichten 10. November 2012 | Text: Anton Thuswaldner | Foto: SN/ Wolfgang Lienbacher

Was bringt Menschen dazu zu lesen? Warum beschäftigen sie sich mit Romanen, Gedichten, Erzählungen und Sachbüchern? Hubert von Goisern erzählt, wie er zum Leser geworden ist und stellt seine Lektüre-Favoriten vor.

Hubert von GoisernHubert von Goisern hat spät zum Buch gefunden. Die klassische These, wer nicht schon als Jugendlicher zum Buch gefunden habe, sei für die Literatur verloren, trifft auf ihn nicht zu. "Die Leselust hat man mir in der Schule nicht vermittelt, und auch nicht im Elternhaus, dort ist nicht viel gelesen worden. Ich habe eigentlich erst mit 27 richtig zu lesen begonnen. Meine damalige Liebe meines Lebens hat viel gelesen, und ich wollte wissen, was das ist, das sie so fasziniert an Büchern. Nachdem sie aus meinem Leben verschwunden ist, lagen ein paar Bücher von ihr noch herum, die habe ich dann gelesen. Das war etwas Einschneidendes."

Seine ersten Leseerfahrungen machte er in englischer Sprache, weil er sich zu dieser Zeit in Kanada aufhielt und Englisch besser beherrschte als Deutsch. Er war umgeben von Leuten, die seinen Wortschatz prägten und erweiterten. Nach seiner Rückkehr nach Österreich musste er sein Deutsch an den allgemeinen Sprachgebrauch erst angleichen. "Mein erstes Buch, bei dem es richtig 'päng' gemacht hat, war John Fowles, Der Magus, dann kam Der Herr der Fliegen von William Golding. Ich habe sogar begonnen, Hesse auf Englisch zu lesen."

Im Alter von 27 Jahren beschloss Hubert von Goisern, Musiker zu werden, mit 30 verstand er sich als ein solcher. Texten maß er vorerst keine Bedeutung zu: "Ich habe mich ausschließlich mit der Musik beschäftigt, Texte waren mir nicht wichtig. Ich war der Meinung, dass der Text ablenkt von der Größe, die die Musik hat. Durch den Text schrumpft die Möglichkeit, seine Fantasie einzubringen. Der Text kam erst sehr viel später dazu. Für die Auseinandersetzung mit textlichem Inhalt habe ich keine Vorbilder. Doch: André Heller war ein starker Eindruck. Seine Art, sich poetisch auszudrücken, hat mich inspiriert und die sprachliche Freiheit, die er sich genommen hat. Bei Wolfgang Ambros haben mich die Texte nicht besonders angesprochen, aber die Art, wie er die Umgangssprache einsetzte. Wenn ich hochdeutsch singe, bekommt das ein Pathos, das mir unangenehm ist. Das spüre ich in der Umgangssprache nicht. Das Englische, auch wenn man es sehr gut kann, ist ein Stück weiter weg vom Herzen."

Das Schreiben von Texten muss man sich als mühsamen Prozess vorstellen: "Wenn ich ein Lied schreibe, ist immer zuerst die Musik da. Ich vertexte meine Musik und vertone nicht meine Texte. Wenn ich eine Komposition fertig habe, weiß ich, worum es in dem Lied geht. Dann suche ich die Worte dazu, und das ist so, wie ein sehr schwieriges Sudoku zu lösen. Ich bin nicht bereit, eine Melodie, auf die ich gekommen bin, zu verändern, um ein Wort singbar zu machen. Es kommt vor, dass man an einer bestimmten Stelle kein i brauchen kann, weil das ein Ton ist, den man mit i nicht singen kann. Dann brauche ich ein Wort, in dem ein e vorkommt oder ein a. Ich suche mir exponierte Melodiepunkte, dazu passt ein Vokal, dann baue ich um diese Vokale den Text. Es wäre tausend Mal leichter, den Text vorher zu schreiben, ich habe mich schon oft geärgert."

Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Weltkrieg.
Dass Egon Friedell als Kulturhistoriker nicht so recht zu trauen ist, weiß Hubert von Goisern, zumal er zum Flunkern neigt. Er bedient sich keiner seriösen historischen Methode, sondern setzt gern auf seine Fantasie, wenn die Fakten dürr, die Dokumente rar sind. "So könnte Geschichte wohl gewesen sein", sagt von Goisern, der betont, dass es sich um Friedells subjektive Variante großer Ereignisse handelt. Friedell verfügt über ein feines Sensorium für Pointen und weiß den Leser auch dank seiner stilistischen Brillanz über eine lange Strecke für sich einzunehmen. Hier wird die Neugier stets wachgehalten.

John Iliffe: Geschichte Afrikas. Aus dem Engl. von Gabriele Gockel und Rita Seuß.
Etwas Vergleichbares ist schwer zu finden. John Iliffe, Afrikanist in Cambridge, wagt sich an die gewaltige Aufgabe, eine Geschichte Afrikas zu schreiben, die von den Anfängen der Menschheit bis ans Ende der Apartheid-Zeit reicht. Iliffe widersetzt sich der Vorstellung, dass nur das historisch ist, was schriftlich überliefert ist. Er legt eine Gegengeschichte zum europalastigen Afrikabild vor und streicht die Afrikaner selbst als geschichtsmächtige Bewohner eines vielfach lebensfeindlichen Kontinents hervor. So lernt man nicht Wilde kennen, die erst durch die Kolonialisierung zivilisiert wurden, sondern stößt auf einen reichen Fundus alter Kulturen.

Benjamin Lee Whorf: Sprache – Denken – Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie. Aus dem Engl. von Peter Krausser.
Die Idee, dass unser Denken von der Sprache beherrscht wird, hat Hubert von Goisern ungeheuer fasziniert. Man müsse sich vergegenwärtigen, sagt er, dass, "wenn man eine andere Sprache spricht, die anders aufgebaut ist, eine andere Syntax hat, andere Zeitformen auch, dass das ein ganz anderes Denken nach sich zieht". Man müsse das als eine ungeheure Chance erkennen. Das sei eine bedeutende Ressource, die jeweils andere Zugänge zu Problemen habe und andere Lösungsansätze entwickeln könne. Der amerikanische Linguist Benjamin Lee Whorf fand zu seiner Theorie über das Studium von Indianersprachen.

Ngugi wa Thiong'o: Herr der Krähen. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Brückner.
In Kenia hatte Ngugi wa Thiong'o mit seiner kritischen Literatur einen schweren Stand. 1977 wurde er festgenommen und kam erst nach Intervention von Amnesty International frei. Heute lebt er in den USA, doch Afrika sitzt ihm bis heute in den Knochen. Sein jüngster Roman Herr der Krähen geht auf locker satirische Weise mit den dortigen Zuständen um. Der Herrscher der Freien Republik Aburiria, ein Despot, versucht sich mit dem Bau eines gigantischen Denkmals Weltgeltung zu verschaffen. Afrikanische orale Erzähltraditionen wie westliche literarische Ausdrucksformen verbinden sich bei Ngugi wa Thiong'o zu einem gewaltigen Romangebäude über postkoloniales Leben.

Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens.
Dieses Buch beschäftigt Hubert von Goisern seit mehreren Jahren immer wieder. Es trifft etwas, was ihm nahegeht. Kein Wunder, bildet für Harald Weinrich das Vergessen doch eine Voraussetzung für schöpferische Tätigkeit überhaupt. Wie soll einer, der nicht seine Vorbilder abstreift, selbst jemals Kunst schaffen? Eine ständige Anhäufung von Wissen finde statt, sagt Hubert von Goisern, dabei sei es genauso wichtig, dass man Dinge vergessen dürfe, um Platz zu machen für etwas anderes. Harald Weinrich arbeitet als Literaturwissenschafter und Linguist, der ohne den Jargon der Wissenschaft auskommt und sich auf die Kunst des packenden Erzählens vertrackter Zusammenhänge versteht.

Kurt Vonnegut: Der taubenblaue Drache. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen und mit Glossar von Harry Rowohlt.
Kurt Vonnegut ist für Hubert von Goisern wichtig, weil er für ihn einen Typus von Schriftsteller verkörpert, der zeigt, dass die USA noch nicht verloren sind. Es gibt ein paar Leute, die nicht in imperialistischer Selbstgewissheit "über andere Länder drüberfahren", sondern wie Vonnegut sich lustig machen über die amerikanische Mentalität und Lebensweise. Was soll man lesen von ihm? Vielleicht diesen Band, in dem sich Vonnegut u. a. an seine Erfahrungen als Kriegsgefangener in Deutschland erinnert, als er die Bombardierung Dresdens erlebte. Diese Beobachtungen prägten die Weltsicht des Autors entscheidend.