HUBERTS SCHREIBTISCH
Hubert von Goisern: Kommentar - Tibet

Während 2008 für die Chinesen das Jahr der Ratte ist, spricht man in Tibet vom Jahr der Erdmaus.
Als ich vor einigen Jahren Tibet bereiste, las ich in der Lobby meines
Hotels in Lhasa ein chinesisches Propaganda-Magazin in englischer Sprache.
Darin fand ich, in einem Artikel über Lenin, dessen unglaubliche
Aussage: "ein Volk, das nicht bereit ist mit Waffengewalt um seine
Freiheit zu kämpfen, verdient die Sklaverei." Dieser Satz macht
mir Lenin extrem unsympathisch. Ebenso wie die chinesische Nomenklatura,
die offensichtlich aus der Friedfertigkeit der Tibeter, ganz im Sinne
Lenins das Recht ableitet, diese zu unterdrücken und das Land auszubeuten.
Aus der Geschichte lässt sich nämlich, trotz aller Behauptungen
kein Anspruch Chinas auf Tibet ableiten.
Je nachdem auf welche Epoche man blickt, waren die Grenzen mal da und
mal dort gezogen. Im 7. Jhdt. war z. B. so gut wie das gesamte heutige
China ein Teil Tibets und aus dem Jahre 1794 gibt es einen in Stein gemeisselten
Vertrag der in beiden Sprachen die Souveränität beider Länder
klarstellte. Als 1949 Mao Tsetung an die Macht kam, war eine seiner ersten
Untaten, in Tibet einzumarschieren und das Land zu annektieren; oder
wie er es nannte - zu befreien. (Von den Tibetern?) Im Laufe seiner Herrschaft
hat Mao vorsichtigen Schätzungen zu Folge 20 Millionen Menschen
das Leben gekostet. Manche behaupten es waren doppelt so viele. Sowohl
Lenin wie Mao sind noch immer nicht begraben, weder im übertragenen
noch im wörtlichen Sinn. Beide sind einbalsamierte Pilgerstätten.
Es ist höchste Zeit für sie, unter die Erde zu kommen.
Und es ist höchste Zeit die Tragödie in Tibet zur Kenntnis
zu nehmen. Ich bin erschüttert aber nicht überrascht über
die jüngsten Entwicklungen, denn es war vorhersehbar und kein Geheimnis,
dass die olympischen Spiele für die Tibeter Anlass sein würden
auf die Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land hinzuweisen. Nach mehr
als 50 Jahren Unterdrückung durch China, ist die Verzweiflung am
Dach der Welt ebenso allgegenwärtig wie die Unfreiheit und Benachteiligung
der einheimischen Bevölkerung. Dass also der eine oder andere seine
Faust ballt und Steine zu werfen beginnt kann nicht verwundern. Gemessen
an den tibetischen Opfern in der Vergangenheit (über 150.000 starben
allein durch Hinrichtungen, an die 200.000 in Gefängnissen und Arbeitslagern)
sind ein paar zerbrochene Fensterscheiben und in Brand gesteckte Autos
eine Lappalie. Und selbst dies wäre wahrscheinlich nicht geschehen,
wenn man jenen Menschen nicht penetrant desavouierte, der wie kaum ein
anderer für Gewaltverzicht und Dialog steht.
Die Dämonisierung des Dalai Lama, vom offiziellen China als "Wolf
im Schafspelz" bezeichnet, ist eine Unerträglichkeit sondergleichen.
Unerträglich ist auch die Haltung der meisten österreichischen
Politiker zu diesem Thema. Bis hinauf zum Bundespräsidenten gibt
es nur ein entwürdigendes Buckeln vor der Wirtschaftsmacht China
um nur ja den Handel nicht zu gefährden. Und bei jedem Staatsbesuch
aus dem "Reich der Mitte" demonstriert man vorauseilenden Gehorsam
indem das Innenministerium mit Polizeigewalt jegliche Kritik im Keim
erstickt.
Dem olympischen Komitee wird der Vorwurf gemacht, bei der Vergabe der
Spiele an Peking ausschließlich wirtschaftlich gedacht zu haben.
Das mag so sein, aber seien wir mal ehrlich, wenn man nach den hehren
Idealen des olympischen Gedanken handeln würde, wohin könnten
die Spiele guten Gewissens vergeben werden? Jedenfalls keinem Land, das
sich auch die Durchführung leisten könnte.
Peking hat sich die Spiele nicht weniger "verdient" als Berlin,
Moskau, Los Angeles oder London. Einen Boykott halte ich aus diesem Grund
für falsch.
Was ich mir aber sehr wünsche, sind Funktionäre und SportlerInnen
mit dem Bewusstsein, dass olympische Spiele eine politische Dimension
haben. Sie dienen seit der Antike auch als politisches Forum. Vielleicht
finden einige die Courage die tibetische Fahne hochzuhalten.
Die Annexion Tibets ist nicht wegzuleugnen, wegzuschweigen und leider
auch nicht wegzumeditieren. Tibet ist nicht China und die Tibeter sind
keine Chinesen. Sie haben eine eigenen Sprache, eine eigene Schrift und
eine eigene Lebensart. Möge es also nicht nur das Jahr der Ratte
werden, sondern auch das der Erdmaus.
Können wir einzelnen Menschen zur Lösung des Konflikts beitragen? Ja. Schreiben Sie an ihre Regierungsvertreter, an die europäische Kommission, an das olympische Komitee..., dass man sich der Problematik annehmen möge und nicht mit dem Argument davonschleichen soll, das sei nicht die Aufgabe einer Sportveranstaltung.
Hubert von Goisern, Salzburg - Ostern 2008